Ein fast vergessenes Thema: "Euthanasie"
Geschrieben von: pethens
Montag, den 08. Juli 2013 um 22:37 Uhr
In der Berliner Tiergartenstraße 4 befand sich ab April 1940 die Zentrale für jene Organisation, die unter den Decknamen "T 4 " - oder schlicht "Aktion" - den Massenmord an Patienten aus Heil und Pflegeanstalten des Deutschen Reich initiierte, koordinierte und durchführte. Das Mordprogramm wurde von einer Unterabteilung der "Kanzlei des Führers" von 100 Mitarbeiter entwickelt. Die "Zentraldienststelle T4", benannt nach dem Kürzel der Adresse Tiergartenstraße 4, organisierte zunächst die Tötung kranker oder behinderten Menschen durch Vergasung. Bis zur formalen Einstellung der Gasmorde im August 1941 starben auf diese Weise im Deutschen Reich und im annektierten Österreich über 70.000 Menschen in sechs eigens dafür eingerichteten Tötungsanstalten.
Zwischen August 1941 und 1945 wurde der Mord dann dezentral fortgesetzt und Patienten durch Nahrungsentzug oder durch Verabreichung von Luminal oder Morphium umgebracht, eine Tötungsmethode, die ebenfalls bereits vor 1941 angewandt worden war. Auf diese Weise wurden allein auf dem Gebiet des Deutschen Reichs (ohne Österreich) etwa weitere 90.000 Menschen zu Tode gebracht.
Das später als "Aktion T4" bezeichnete Verbrechen war dabei nur ein Teil eines umfassenden Massenmords an Patienten, Pflegebedürftigen oder sozial Ausgegrenzten während der NS-Herrschaft in nahezu ganz Europa. Die geschätzte Gesamtzahl der Opfer liegt bei 300.000 Menschen.
Wirtschaftliches Gewinninteresse beziehungsweise Rationalisierungsstreben im Rahmen des "totalen Krieges" war einer von mehreren Faktoren für die mörderische Radikalisierung der Politik gegen Kranke und Behinderte. Ihre Basis bildeten jedoch die "rassenhygienischen" und sozialdarwinistischen Grundüberzeugungen der Nationalsozialisten und von Teilen der ärztlichen, juristischen und bürokratischen Elite in Deutschland. Bevölkerungspolitik sollte auf Auslese beruhen. Dazu gehörte auch der "Gnadentod" für angeblich "unheilbar Kranke". Die "Euthanasie" (griechisch: schöner Tod), wie das Morden genannt wurde, war dabei eine Konsequenz der NS-Weltanschauung.
Lange Zeit standen, wenn überhaupt historisch geforscht wurde, die Täter im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Erst in jüngster Zeit wandte sich die historische Forschung den Opfern zu. Sie waren in der Nachkriegszeit nahezu völlig in Vergessenheit geraten. Die Überlebenden blieben nach 1945 noch über Jahrzehnte im gesellschaftlichen Abseits. Über ihre Integration und ihre Befreiung aus der Abgeschlossenheit der Anstaltsexistenz wurde von Seiten der Mehrheitsgesellschaft nicht nachgedacht. Ein veränderter Umgang mit Beeinträchtigung, abweichendem Verhalten und psychischer Erkrankung stellte sich erst langsam ein. Und auch den Leidtragenden von Zwangssterilisation während der NS-Herrschaft, etwas 360.000 Menschen, nahm sich niemand an. Der Mehrzahl von ihnen wurde keine Entschädigung gezahlt.
Der Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann, hat heute zu einer Mahnfeier anlässlich des Bauauftaktes des Gedenk- und Informationsorts für die Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde in Berlin, Tiergartenstraße eingeladen. In seiner Rede zur Gedenkfeier sagte der Staatsminister Neumann: "Für die Bundesrepublik Deutschland bleiben die Aufarbeitung der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes, das Gedenken an die Opfer und die Aufklärung und Information der nachfolgenden Generationen eine dauerhafte Aufgabe und Verpflichtung. Der Gedenkort wird an eines der grauenvollsten Verbrechen des NS-Regimes erinnern: Die sogenannte ›Aktion T 4‹ – den Mord an wehrlosen Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung, an psychisch oder chronisch Kranken sowie sogenannten ›Asozialen‹. Das Besondere an diesem Gedenkort wird sein, dass er – anders als die drei in Berlin bereits errichteten Denkmale für Opfer des NS-Regimes – an einem authentischen Täterort errichtet wird. Dieses Denkmal wird in unserer Hauptstadt einmal mehr Zeichen setzen – gegen Hass, Verblendung und Kaltherzigkeit und für Toleranz, Mitgefühl und Achtung vor dem Leben.Die Erinnerung daran ist eine Aufgabe von nationaler Bedeutung und gesamtstaatlicher Verantwortung".
Zum Gedenken an die Opfer der »Euthanasie«-Morde fördert die Bundesregierung auch bereits die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein und unterstützt Projekte der Gedenkstätte Grafeneck, der Gedenkstätte Hadamar und der Dokumentationsstelle Brandenburg an der Havel.
Für die Gesamtrealisierung des Projekts stellt die Bundesregierung (Kulturstaatsminister Bernd Neumann) eine halbe Million Euro zur Verfügung. Das Land Berlin bringt das Grundstück »Tiergartenstraße 4«, nördlich der Philharmonie, ein. Dort wird nach dem Entwurf der Arbeitsgemeinschaft von Ursula Wilms, Nikolaus Koliusis und Heinz W. Hallmann eine transparente hellblaue 30 Meter lange Glaswand errichtet, die die bereits existierende Gedenktafel mit einbezieht. Die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas ist gemeinsam mit der Stiftung Topographie des Terrors für die Umsetzung und die künftige Betreuung des Erinnerungsortes verantwortlich.